Von der höheren Töchterschule bis zum Ende der „Kreidezeit“

Dass es überhaupt zur Gründung der ersten höheren Mädchenschulen kam, wurde in der Zeitung einmal als „reiner Akt der Selbsthilfe aus den Reihen der Frauenbewegung“ bezeichnet. Wegbereiter aber dafür, dass nur sieben Jahre nach der Gründung der „höheren Knabenschule“ auch die „Töchterschule Ritzebüttel“ ihre Türen öffnen konnte, war ein Mann: Amtmann Amandus Abendroth.

Von Maren Reese-Winne (Cuxhavener Nachrichten 26.8.2017)

Da der Name aber ja schon an das frühere Jungengymnasium (seit 1985 "Amandus-Abendroth-Gymnasium“) vergeben war, fiel 1986 die Entscheidung, dass das damalige „Gymnasium Schulstraße“ (GSC) fortan den Namen des Wissenschaftlers Georg Christoph Lichtenberg tragen sollte, der sich auch leidenschaftlich für Cuxhaven als Standort des ersten deutschen Seebads stark gemacht hatte. Das mag den Ausschlag für die Wahl gegeben haben (im Gespräch waren auch Heinrich Heine und Amtmann Brockes gewesen); der vor wenigen Tagen verstorbene Schulleiter Hans-Joachim Herzig sah aber noch viel mehr Verbindungspunkte: Lichtenberg stehe für Aufklärung, vorurteilsfreies Denken und kritisches Hinterfragen, Freiheit des Geistes, sprachliche Logik und bildhaften Eindruck.

Ganz so groß war der Horizont noch nicht, als die ersten zehn Mädchen aus bürgerlichen Ritzebütteler Häusern zu Ostern 1817in die Töchterschule Am Vorwerk 1 einzogen: Handarbeit, deutsche Literatur und Fremdsprachen standen auf dem Lehrplan, unterrichtet wurde vor- und nachmittags mit bis zu sechs Jahrgängen in einer Klasse.

1848 war die Schule auf 40 Schülerinnen angewachsen. Platz für Zuwachs gab es nicht mehr, und so gründeten Eltern aus Cuxhaven 1849 eine private Bürgerschule. 1881 wurden diese Schulen vereinigt. Ein stattlicher Neubau (später Polizeigebäude) entstand 1898 in der Friedrich-Carl-Straße. Die „Augusta-Viktoria-Schule“ umfasste eine Knabenvorschule, eine dreijährige Vorschule für Mädchen, eine sechsjährige Töchterschule und eine Seminarklasse. Sie stand in Konkurrenz mit der „Cochius-Schule“ in der Annenstraße.

Nachdem Otto Kießner von der Augusta-Viktoria-Schule Konkurs anmelden musste, wurden beide Schulen zur „Höheren Mädchenschule Cuxhaven“ vereinigt. Diese sollte Mädchen endlich zum Abitur und an die Hochschule führen: 1912 wechselten die ersten vier Schülerinnen zur „Höheren Staatsschule“ (für Jungen), drei von ihnen bestanden 1915 ihr Abitur. Ihnen sollten bald diverse weitere Absolventinnen folgen; doch das von Bürgermeister Bleicken angeführte Kuratorium wollte mehr: Um die Schule zum Status einen Lyzeums zu führen, stellte es mehr und mehr akademisch gebildete Lehrkräfte ein.

1932 – da war das Lyzeum schon in den Neubau an der Schulstraße umgezogen – wurden an der Schule das erste Mal Abiturprüfungen vorgenommen, allerdings nur vier. So wurde angeordnet, folgende Abiturjahrgänge wieder an die Staatsschule abzugeben.

300 Schülerinnen, 23 Lehrkräfte – diese Zahl hatten die Räume an der Friedrich-Carl-Straße nicht mehr fassen können; so entstand 1930 an der Schulstraße der „Schumacher-Bau“ – bis heute der charakteristische Kern der Schule. Fritz Schumacher, Architekt und hamburgischer Oberbaudirektor, stellte ein geradezu revolutionäres Schulgebäude in Bauhaus-Tradition mitten in die Schrebergärten: Klar, modern, geradlinig; „der architektonische Einbruch der Moderne in Cuxhaven“ (Zitat Schulleiter Herzig). Was der Bau in den darauffolgenden Jahren alles würde mitmachen müssen, war noch nicht abzusehen.

So stieg die Schülerzahl bis 1980 auf astronomische 1200 in 45 Klassen und mit 80 Lehrkräften an, was Schulleiter Hans-Joachim Herzig bei der Einweihung des sehnlichst erwarteten Erweiterungsbaus zu einem Vergleich mit einem überquellenden Reistopf führte. Zehn ausgelagerte Klassen und neun auf Wanderschaft ohne festen Klassenraum stellten alle auf eine harte Geduldsprobe.

Zunächst aber fegte über das aufstrebende Lyzeum der Sturm des Nationalsozialismus hinweg. In der Ideologie war eine Frau als Schulleiterin nicht mehr vorgesehen; Schulleiterin Luise Kuntz wurde – was sie schwer traf – auf Geheiß der Landesunterrichtsbehörde durch Dr. Otto Junge ersetzt. Der Lehrplan änderte sich massiv; den Schülerinnen wurde eine „innere Abneigung gegen die vorwiegend theoretisch wissenschaftliche Bildung“ unterstellt:

„Ihr Lebenskreis ist die Kleinstadt und das Land, und so wollen sie sich praktisch betätigen...“ So wurden fortan auch die Unterrichtsinhalte gestaltet: „Ausbildung des Herzens und Empfindung“, die Frauen als „Hüterin der Seele des Volkes“. Gewünscht war eine „entschlossene Hinwendung des deutschen Mädchens zu den tragenden Gedanken des neuen Staats“, und zwar durch einen „unverlierbaren Erlebnisinhalt“, so heißt es in der Chronik der NS-Zeit.

„Erlebnisinhalt“, das war „tüchtige Arbeit in Garten und Feld, Haus und Hof“. Schülerinnen wurden zu Bauern aufs Land geschickt, waren in Kinderheimen und kinderreichen Familien tätig, in der Schule übten sie sich in der Kunst des Blumensteckens, aber auch der Rassenkunde und Germanengeschichte. Prüfungsinhalte bei der Reifeprüfung zu Ostern 1941 waren etwa das Erstellen eines fleischlosen, festlichen Mittagessens für acht Personen, das Ausrichten eines Kindergeburtstags oder das Reinigen von Aluminiumgeschirr.

Der Ausbruch des 2. Weltkriegs beeinflusste das Schulleben nachhaltig; zum einen, weil diverse Lehrkräfte direkt eingezogen wurden und bereits (zwangsweise) in den Ruhestand versetzte Lehrerinnen zurückkehrten, zum anderen, weil es umgehend zu Einquartierungen ins Gebäude kam.

Bombenangriffe auf Cuxhaven führten dazu, dass die örtlichen Parteigrößen Schulleitung und Eltern 1942 die Teilnahme an der Kinderlandverschickung nahelegten. Die Entscheidung blieb aber freiwillig. Rund 170 Mädchen – etwa die Hälfte der Schülerinnen – sollten zunächst in ein Gebiet östlich von Lemberg (heute Ukraine) geschickt werden, was nicht nur der spätere Schulleiter Dr. Paterna, sondern selbst die begleitende Partei-Funktionärin wegen der Nähe zur Front vehement ablehnten. Schließlich fuhren die Mädchen nach Bad Rabka in der Hohen Tatra, eine Gruppe von Jungen aus der Höheren Staatsschule landete im relativ nahen Zakopane.

Die „Katastrophe von 1945“, wie das Ende des Kriegs in der Chronik von 1967 bezeichnet wird, bedeutete für die Schule erst den Anfang einer bis dahin beispiellosen Zerstörung, denn die britischen Truppen, die dort unterkamen,ließen kein Stein und Brett auf dem anderen. Physikalische Geräte landeten auf dem Schulhof, Wände wurden nach Belieben niedergerissen und neu errichtet, Panzer parkten auf dem Schulhof.

Der Unterricht wurde unter anderem in Gemeindehäusern Ende 1945 wieder aufgenommen. Es fehlte an allem: Tinte, Papier, Stiften, selbstverständlich auch an Schulbüchern, denn diese waren als erstes verboten worden.

Ende August 1947 ordnete der neuen Schulleiter Dr. Wilhelm Paterna in Eigenregie den Rückzug in das inzwischen verlassene Gebäude an, das ein Bild des Jammers bot: 400 Scheiben fehlten, Fußböden waren demontiert und verheizt, Heizung, Elektro- und Wasserleitungen defekt, Wasch- undToilettenbecken zerstört oder geklaut. Noch 1948 musste jede Schülerin, die an die Schule kam, einen Stuhl mitbringen und je zwei einen Tisch.

Ostern 1957 übernahm mit Eleonore Siebrecht wieder eine Frau die Schulleitung. In ihre Ägide (bis 1975) fiel der Aufbau intensiver Austausche und Freundschaften mit der französischen Partnerstadt Vannes. 1965 erlebten 30 Schülerinnen einen dreiwöchigen Langzeit-Austausch mit dem dortigen „Lycée des filles“, 1974 entstand der enge Austausch mit dem Lycée St. Paul, geprägt über Jahre unter anderem durch Melsene Johansen und Michel Le Corno. Krönung dieser Schulpartnerschaft waren mehrere gegenseitige Langzeit-Austauschaufenthalte: 1990 kamen zum ersten Mal 34 französische Jugendliche mit vier Lehrkräften für vier Wochen ans LiG.

Projektarbeiten führte deutsche und französische Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler zusammen. Bald schlossen sich die Gegenbesuche an. Dieses Modell lief über mehrere Jahre. Wenn sich auch die Lehrpläne zusehends angenähert hatten, die antiquierten Regeln wurden in den 60ern zusehends in Frage gestellt: Die Mädchen hatten im Rock zum Unterricht zu erscheinen, auf den Fluren des Schulgebäudes herrschte Rechtsverkehr, und selbst, eingehakt zu gehen, war laut „Stichpunkten zur Schulzucht“ (!) untersagt.

Über das Verhältnis zu den Lehrkräften und das jeweilige pädagogische Feingefühl gibt es verschiedene Überlieferungen, ebenso über die Aufarbeitung der NSGeschichte in den 50ern und 60ern. Engagierte Lehrkräfte aber sollen schon in der Zeit, in der eine ganze Gesellschaft noch über diese Zeit schwieg, über die Gräuel des Holocaust berichtet haben.

Eleonore Siebrechts zweites großes Projekt war die Einführung der Koedukation – in Wirklichkeit waren es aber die Schüler und Schülerinnen beider Gymnasien, die schon seit 1964 darauf drängten, den Muff vergangener Zeiten loszuwerden.

Was für ein Drama, wenn Mädchen und Jungen sich im Schulviertel zu nahe kamen! Um dies zu vermeiden, gab es unterschiedliche Pausenzeiten. Das hinderte die Mädchen und Jungen nicht daran, an einem 1. April eine Klasse komplett durchzutauschen und geschlossen in einem Klassenraum des anderen Gymnasiums aufzutauchen.

Aber mit der Koedukation wollte es Eleonore Siebrecht nicht zu schnell treiben. An anderen Orten, wenn Schulen neu gebaut würden, gern... 1969 beschloss der Rat der Stadt, ab dem Schuljahr 1970/71 die Koedukation einzuführen, aufsteigend ab Jahrgang 5. Den Schülervertretungen der Gymnasien war das viel zu langsam: Im Ratssaal machten sie ihrem Ärger gegenüber den Mitgliedern des Schulausschusses, Oberbürgermeister Wegener und Oberstadtdirektor Dr. Eilers Luft und ließen sich nur durch die Versicherung besänftigen, dass eine schnellere Umstellung wohl von Hannover nicht genehmigt worden wäre.

Schulsprecherin Karin Gettkowski forderte, dass sich die Gleichberechtigung der Geschlechter in einem partnerschaftlichen Miteinander bereits in der Schule verwirklichen sollte; ihr männliches Pendant Thomas Welke forderte auf, Abschied zu nehmen von alten Rollenbildern.

Schnell waren danach die gemischten Klassen überhaupt kein Thema mehr, das Gymnasium wandte sich neuen Herausforderungen wie der Kooperation in der reformierten Oberstufe zu und arbeitete weiter an seiner Profilbildung. Stellvertretend genannt seien hier nur einige Meilensteine, die das Gesicht des Lichtenberg-Gymnasiums prägten und prägen:

  • Kulturelles: Theater-AG, Musical-AG, Jazz-Company und Chöre überzeugen – nicht durch Zufall, sondern durch harte Arbeit – mit durchweg hochwertigen Inszenierungen.
  • Sportliches: Die LiG-Mannschaften schnappen den anderen Schulen die meisten Stadtmeister-Titel weg und sind regelmäßig erfolgreich bei „Jugend trainiert für Olympia“.
  • Technisches: Netbookklassen und Activboards (elektronischen Schultafeln) läuten das „Ende der Kreidezeit“ ein.
  • Experimentelles: Bilingualer Unterricht (zum Beispiel Erdkunde auf Englisch). 
  • Soziales: LiG-Gruppen haben intensiv für das „Stolperstein“-Projekt geforscht; Einsatz für soziale Projekte mit Spendenläufen.
  • Organisatorisches: Bewältigt wurden große Schulreformen wie Einführung und Abschaffung der Oberstufe oder des G 8 und das Doppelabitur. Seit 2012 ist das LiG offene Ganztagsschule.

 



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