Gerade Linien: Zu modern für das kleine Cuxhaven?

Die Gestaltung des Neubaus für die staatliche Mädchen-Realschule in Cuxhaven wurde im Jahr 1927 kontrovers diskutiert: Ging es doch um den modernen Stil, in dem der Leiter des öffentlichen Bauwesens in Hamburg, Dr. Fritz Schumacher, den Neubau auszuführen gedachte. Ein Rückblick auf die Baugeschichte als Finale des Jubiläumsjahres des heutigen Lichtenberg-Gymnasiums.

Von Maren Reese-Winne (Cuxhavener Nachrichten, 30.12.2017)

Schumacher, der in Hamburg über 30 Schulen gebaut hatte und dessen Werk internationalen Ruf genießt, wollte zwar heimischen roten Klinker verwenden, seine Entwürfe im Bauhaus-Stil aber zeigten ungewohnt klaren Linien voller „sachlicher Schlichtheit“ . Gegner echauffierten sich über das vorgesehene „orientalische“ Flachdach, Cuxhavens späterer Oberbürgermeister Karl Olfers aber setzte sich für den modernen Bau ein.

Hamburg hatte die höhere Mädchenschule in der Friedrich-Carl-Straße (später Polizeigebäude) im Jahr 1923 übernommen. Die hygienischen Verhältnisse dort waren miserabel, die Turnhalle marode und aufgrund einer baupolizeilichen Anordnung durften den Zeichensaal gleichzeitig nur 15 Mädchen der Oberstufe oder höchstens 20 aus der Mittelstufe betreten, da sonst der Einsturz drohte.

Nach zwei Jahren Bauzeit stand 1930 der Neubau. Charakteristisch: die strengen geraden Linien und die großen parallel angeordneten Fensterfronten – für Cuxhaven geradezu der architektonische Ausbruch der Moderne. Das Gebäude umfasste zwei gegenüberliegende Reihen mit 14 Klassenräumen für 250 Schülerinnen. Dieses Raumangebot sollte später arg überstrapaziert werden.

Doch zunächst bewegten sich die Schülerinnen, die Kurkapelle vorneweg, am 30. April 1930 von der Friedrich-Carl- in die Schulstraße. Die Schüler der höheren Staatsschule (heute Amandus-Abendroth-Gymnasium) hatten draußen Position bezogen, die Schülerinnen der Deichschule standen Spalier in der Schulstraße. Das moderne Gebäude stand inmitten von Kleingärten, an seiner Westseite verlief noch eine Straße.

Die Räume waren endlich hell und luftig. Für den Schulsport standen die neue Turnhalle und der Rasenplatz neben dem Schulhof zur Verfügung. Cuxhavens Amtsarzt Dr. Zedelius zeigte sich (überliefert in der Schulchronik) bei einer Besichtigung zufrieden und lobte den „mustergültig ausgeführten Bau“, der alle hygienischen Anforderungen „in hervorragendem Maße“ erfülle: „Die Heizung erfolgt durch eine Niederdruck-Dampfheizung. Es sind genügend freistehende Heizkörper vorhanden, die vollkommen sauber sind. Die Fußböden sind durchweg mit Linoleum belegt, welches täglich mit Falalinspänen gesäubert und mehrmals in der Woche gebohnert wird.“ Dies erledigten die Reinigungskräfte, der ihnen gegenüber weisungsbefugte Hausmeister war hingegen auch gleichzeitig Heizer. Zedelius weiter zum Innenleben: Die Belichtungsverhältnisse seien ausgezeichnet, Tische und Stühle in den Klassenräumen „frei beweglich“. Dies sei „praktisch, erziehlich und förderlich für den Geist des Unterrichts“. Lobend erwähnt er auch den Milchkeller und die sauberen Waschräume. Nach dem Sport werde warm geduscht – er wünschte sich noch, dass zum Schluss die Duschen kälteres Wasser gäben.

Buchstäblich in ihren Grundfesten erschüttert wurde die Schule durch die letzten Bombentreffer des 2. Weltkriegs in Cuxhaven am 14./15. April 1945: Die Wände zeigten große Risse, im dritten Obergeschoss stürzten alle Innenwände zusammen. Die Verblendmauer war vom Kernbau abgerissen, alle Scheiben zersprungen, Türen und Rahmen herausgerissen. Schon in den Kriegsjahren zuvor war hier längst nicht mehr nur unterrichtet worden; so waren zeitweilig Hunderte von Hilfskräften für Schanzarbeiten sowie 750 Hitlerjungen einquartiert.

Nach Kriegsende beschlagnahmten die englischen Besatzer das Gebäude und waren bei der Umgestaltung nach ihrem Geschmack nicht zimperlich: Sie stellten im Zeichensaal Badewannen auf und durchbrachen im Erdgeschoss kurzerhand alle Wände, sodass eine zusammenhängende Flucht von Räumen entstand.

Als sich die Schülerinnen im August 1947 die mittlerweile verlassenen Räume zurückeroberten, präsentierte sich das Schulgebäude in einem desolaten Zustand. Wochenlang wurde aufgeräumt, jahrelang wiederaufgebaut. Die Hilfe der Eltern, die entweder selber anpackten oder Zigaretten als Lohn für die Bauarbeiter spendeten, machte dies erst möglich.

Die folgenden und alle weiteren Umbauten veränderten das Gesicht des dennoch weiter erkennbaren Schumacher-Baus: Eine Bestandsaufnahme des Fritz-Schumacher-Instituts und der Fritz-Schumacher-Gesellschaft aus dem Jahr 2005 verzeichnet etwa das Verschwinden der „früheren Zierlinien“ in der neu errichteten Verblendmauer.

Der Hauptbau wurde an einer Seite um ein Geschoss aufgestockt und das Flachdach ist heute nicht mehr als Dachterrasse zu nutzen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde auf dieser Terrasse den Hitlergruß zeigend das Hissen der Flagge begleitet.

1968/69 wurde westlich des Hauptgebäudes der naturwissenschaftliche Trakt mit drei Etagen errichtet. Durch weitere Umbauten entstanden fünf neue Klassenräume. Das war auch nötig angesichts ständig wachsender Schüler(innen)zahlen; zu diesem Zeitpunkt bereits 600.

Mitte der Siebziger schlug der Effekt der Babyboom-Jahre voll durch. Der 1975 angetretene Schulleiter Hans-Joachim Herzig sah sich mit knapp 1000 Schülern (die Zahl sollte noch wachsen) konfrontiert und kämpfte direkt um einen Anbau – eine Pavillonlösung auf dem Schulhof war für ihn indiskutabel. Bei der Einweihung des Anbaus am 18. April 1980 erinnerte er an die zu diesem Zeitpunkt dramatischen Zustände, eine „berstende Fülle in Klassen und Gängen“. Überfüllung habe aus einer einst funktionstüchtigen Schule ein „beängstigend-beengendes Provisorium“ gemacht. Die Vorstellungskraft der Erbauer hätten die inzwischen eingetretenen Tatsachen sicher gesprengt: 50 Jahre nach der Eröffnung bewegten sich hier 1200 (statt 250!) Schülerinnen und Schüler in 45 Klassenverbänden mit 80 Lehrern. Neun Klassen waren auf Wanderschaft ohne eigenen Klassenraum. Zehn Klassen waren ausquartiert.

Der neue, wabenförmig angelegte Klassentrakt musste ohne Luxus auskommen. Aber er bot etwas geradezu Revolutionäres: Das Forum mit seinen Stufen zum Sitzen, der hohen Fensterfront und der Empore; ein neuer Veranstaltungsraum, eine Verkehrs- und Kommunikationsfläche gleichzeitig. Herzig wertete dies als Erneuerung des gesamten Schulkomplexes und freute sich über die neu gewonnene innere Geschlossenheit. Schließlich hänge es von den räumlichen Möglichkeiten einer Schule ab, in welcher Weise es gelinge, Sozialverhalten einzuüben.

Die 1980 eingeführte Orientierungsstufe, die dem Gymnasium die Klassen fünf und sechs nahm und damals für ersehnte räumliche Entspannung sorgen sollte, ist längst wieder abgeschafft. Die Rückkehr der „Kleinen“ erforderte 2003 wieder umfangreiche Umgestaltungen, um Platz für Klassenräume zu gewinnen und das Außengelände auf die Bedürfnisse jüngerer Schülerinnen und Schüler abzustimmen.



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